Die Politik von BelRAI

  • Bereits Anfang der 2000er-Jahre äußerten die für die Gesundheitspolitik zuständigen Minister auf föderaler Ebene sowie in den Gemeinschaften und Regionen die Idee, „ein einheitliches Beurteilungsinstrument“ einzuführen, um die Pflegebedürftigkeit von Menschen mit Unterstützungsbedarf festzustellen.

  • Das Ziel bestand sowohl darin, das System zu vereinfachen, als auch für mehr Gerechtigkeit und Kohärenz zu sorgen. Es ging darum, ein Instrument zur Messung der Bedürfnisse und der „Fragilität“ dieser Menschen zu finden, das in verschiedenen Feldern der Gesundheits- und Sozialhilfepolitik eingesetzt werden kann. Dadurch sollte insbesondere vermieden werden, dass es zu Situationen kommt, in denen eine Person als „abhängig oder krank“ identifiziert wird, um eine bestimmte Hilfe gewährt zu bekommen, in einem anderen Hilfekontext jedoch als „fit und gesund“, weil in den verschiedenen Pflege- und Hilfebereichen unterschiedliche Raster zur Situationsanalyse verwendet werden.

    Nach einer genaueren Analyse der als wissenschaftlich fundiert anerkannten Instrumente und Skalen und einer Recherche der Praxis im Ausland, fiel die Wahl auf die von InterRAI entwickelten Instrumente. Diese boten mehrere wichtige Vorteile:

    • Sie berücksichtigen gleichzeitig verschiedene Facetten der Situation: die physische, psychische und soziale Fähigkeit sowie die Beziehungsfähigkeit der beurteilten Person.
    • Sie sind für verschiedene Pflegekontexte geeignet und können daher sowohl bei Patientinnen und Patienten zu Hause als auch bei Menschen in Heimen oder Krankenhäusern eingesetzt werden.
    • Als Entscheidungshilfe bei der Erstellung von Pflegeplänen bieten sie einen Mehrwert für die Fachkräfte selbst: Die Instrumente vergeben nicht nur eine „Punktzahl“ an die jeweiligen Patientinnen und Patienten, sondern generieren sogenannte Clinical Assessment Protocols (klinische Beurteilungsprotokolle, kurz: CAP), die das Augenmerk der betreuenden Fachkräfte auf bestimmte Punkte richten.

    Auf dieser Grundlage wurde im Mai 2006 ein Abkommen zwischen den belgischen Behörden und InterRAI getroffen, um die Implementierung der Instrumente in Belgien testen zu können. Zunächst ging es darum, sie an den belgischen Kontext anzupassen: Die Übersetzung in die drei Landessprachen in einem an den belgischen Kontext angepassten Jargon, ohne dabei etwas an ihrer wissenschaftlichen Gültigkeit einzubüßen. Gleichzeitig wurde jedoch beschlossen, sie in ein Datenverarbeitungssystem zu integrieren, das seitdem „BelRAI“ heißt, um den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Fachkräften im Gesundheitswesen gewährleisten zu können.

    Etwa zehn Jahre lang wurde BelRAI im Rahmen spezifischer Studien und Projekte experimentell eingesetzt, um den Mehrwert für die Qualität der den Patientinnen und Patienten angebotenen Pflege zu beurteilen, die Relevanz der aus der Nutzung resultierenden Informationen zu beurteilen und zu beurteilen, inwieweit das computergestützte Instrument an die Bedürfnisse und die Organisation der Versorgung in der Praxis angepasst war.

    Das computergestützte System erschien zwar als echter Vorteil, um die Informationsübermittlung zwischen den Akteuren des Gesundheitswesens zu erleichtern – insbesondere bei einem Wechsel des Lebensortes von Patienten (Aufnahme in ein Pflegeheim, Krankenhausaufenthalt oder Entlassung aus dem Krankenhaus usw.) – doch stellte sich schnell die Frage: Wie lassen sich diejenigen Personen identifizieren, für die eine Beurteilung auf der Grundlage der InterRAI-Instrumente wirklich von Interesse ist?

    Die belgischen Behörden finanzierten daraufhin in Absprache mit InterRAI und unter Mitwirkung von InterRAI angehörenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Entwicklung eines speziellen „Screening“-Instruments (bei BelRAI als „Screener“ bezeichnet), das auf der Grundlage eines Minimums an Fragen diejenigen Personen identifiziert, für die eine vollständige BelRAI-Beurteilung infrage kommt.

    Im Jahr 2018 beschlossen die Behörden auf föderaler, regionaler und Gemeinschaftsebene, den Prozess zu beschleunigen. „BelRAI 2.0“, eine neue und robustere Anwendung ging online und wurde allen Fachkräften des Gesundheitswesens in Belgien zugänglich gemacht; diese neue Anwendung erfüllt alle Anforderungen an die Informationssicherheit (siehe Beschlussfassung des Informationssicherheitsausschusses). Gleichzeitig wurde am 26. März 2018 ein Vereinbarungsprotokoll zwischen diesen verschiedenen Behörden verabschiedet, in dem die Modalitäten der groß angelegten Implementierung von BelRAI sowie die von den verschiedenen Behörden eingegangenen Verpflichtungen festgelegt wurden.

    In einer Reihe von Bereichen konkretisiert dieses Protokoll die gemeinsame Vision der Behörden wie:

    • die Ziele des BelRAI-Instruments;
    • den Inhalt des Instruments;
    • die Nutzungsmodalitäten des Instruments durch Hilfs- und Pflegeerbringer im Rahmen einer Versorgungsbeziehung;
    • die Nutzungsmodalitäten namentlicher BelRAI-Daten außerhalb eines Hilfe- oder Pflegekontexts;
    • die Schulung von Fachkräften im Einsatz des Instruments;
    • den technischen Aufbau von BelRAI: Datenbank, Webanwendung, Webservices, Datawarehouse;
    • das Hosting der Daten und der Anwendung;
    • die Steuerung des Instruments;
    • die Verbindungen zu InterRAI;
    • die Strategie in Bezug auf die Verwaltung und Erweiterung von BelRAI;
    • die Finanzierung von Infrastruktur, Schulungen, zusätzlichen Entwicklungsschritten etc.

    Seitdem wird kontinuierlich daran gearbeitet, die bestehenden Instrumente zu verfeinern und in ergänzende Instrumente zu investieren.

    In einem speziellen BelRAI-Bereich können Softwareentwicklerinnen und -entwickler alle Informationen (Cookbook) abrufen, um die Instrumente in die professionelle Software von Gesundheitsdienstleistern zu integrieren und über einen Webservice für einen Datenaustausch mit der zentralen Datenbank zu sorgen.

    Im Rahmen der personenzentrierten Pflege und des Gesetzes über die Rechte des Patienten werden Patientinnen und Patienten ab Januar 2023 auch über MyBelRAI Zugang zu ihren BelRAI-Daten haben. Auf diese Weise können auch sie selbst, nahestehende Hilfspersonen oder ihre Vertretungen eine Rolle bei der Erstellung eines Pflege- und Behandlungsplans spielen.

    Im Rahmen der Bevölkerungsverwaltung werden auf Meso- und Makroebene aggregierte Daten abgerufen werden können, die zur Mobilisierung von Mitteln und zur Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen können.

    Dadurch trägt BelRAI zu den meisten Zielen des sogenannten „Quintuple Aim“ (5AIM) bei:

    • letztendlich Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, indem auf der Grundlage der von BelRAI bereitgestellten Informationen zum richtigen Zeitpunkt und zu jeder Zeit die richtigen Entscheidungen in Bezug auf die Gesundheitsversorgung getroffen werden;
    • Verbesserung der von den Patientinnen und Patienten wahrgenommenen Versorgungsqualität durch eine bessere Ausrichtung auf die notwendige und vorrangige Versorgung in Zusammenarbeit mit ihnen auf der Grundlage der von BelRAI bereitgestellten Informationen;
    • effizientere Nutzung der verfügbaren Mittel, da sich auf der Grundlage der von BelRAI bereitgestellten Informationen auf die Pflege konzentriert wird, die weiter zur Verbesserung oder zumindest Stabilisierung der Lebensqualität der jeweiligen Personen beiträgt, gute Pflegearrangements trifft und „unmet needs“ und „overmet needs“ (Bedürfnisse und Versorgungsleistungen, die entweder unbefriedigt bleiben oder die angeboten, aber nicht ausreichend auf die Bedürfnisse oder andere Anforderungen abgestimmt sind) vermeidet;
    • Verbesserung des Wohlbefindens der Gesundheitsdienstleister: Die Möglichkeit, eine Beurteilung unter Berücksichtigung des gesamten Kontexts der Patientinnen und Patienten vorzunehmen, auf der Grundlage der von BelRAI gelieferten Informationen innerhalb des Behandlungsteams Pflegemaßnahmen zu ergreifen und deren Auswirkungen zu überwachen, Informationen zu erhalten, die den Einsatz der Mittel steuern und die Qualität verbessern können, und dies (letztendlich) ausgehend von der persönlichen Patientenakte, gewährleistet, dass der Gesundheitsdienstleister stärker in die ganzheitliche und integrierte Behandlung der Patientinnen und Patienten einbezogen wird;
    • soziale Gerechtigkeit und Inklusion, indem den Schwächsten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und das soziale Umfeld und das Beziehungsumfeld jeder einzelnen Person bei der Beurteilung berücksichtigt werden.